neues deutschland Montag, 2. September 2019.
Vertriebene auf eigenem Land
Seit fast drei Jahren gilt ein fragiler Frieden in Kolumbien – in vielen Dörfern hat sich wenig geändert Der Chocó war Rückzugsgebiet der linken Guerillabewegung FARC in Kolumbien. Für die Menschen in den Dörfern der Region war dies verhängnisvoll. Und ist es bis heute.
Von Marie Frank, Clavellino Die halb verfallenen Holzhütten mit ihren Wellblechdächern am schlammigen Ufer des Flusses Truando mitten im kolumbianischen Regenwald bieten kaum Schutz vor der drückenden Hitze. Auch die Moskitos, die jetzt in der Regenzeit in Scharen unterwegs sind, vermögen sie nicht abzuhalten. Türen gibt es ebenso wenig wie Fensterscheiben. Wozu auch, zu
holen gibt es hier im Chocó, der ärmsten Region Kolumbiens, ohnehin nichts: Die karge Einrichtung der Hütten macht vielmehr den Eindruck, als wären ihre Bewohnerinnen jederzeit bereit, schnell von hier zu fliehen, wie so oft in ihrem Leben.
Die Gemeinde Clavellino im Nordwesten Kolumbiens nahe des Pazifik ist eine Art Auffangbecken für vertriebene Afrokolumbianerinnen.
Während die Frauen unter einer Plastikplane als Sonnenschutz am offenen Feuer das Essen zubereiten oder im Fluss die Wäsche waschen, arbeiten die Männer auf den wenigen Feldern, die sie direkt hinter den Hütten dem Dschungel abgetrotzt haben. Das wenige, das hier angebaut wird,
reicht jedoch kaum zum Leben, auch weil die Früchte der Kochbananenund Maisfelder oft Überschwemmungen zum Opfer fallen. Weiter weg vom Fluss ist der Anbau jedoch nicht möglich. Zu groß ist die Gefahr, dass immer noch Landminen vergraben sind. Lebensmittel oder Medikamente müssen sich die Menschen daher in der mehrere Stunden entfernten und nur mit dem Boot zu erreichenden Provinzstadt Riosucio besorgen.
Fast 30 Familien leben in Clavellino. Die meisten der rund 130 Einwohnerinnen sind kleine Kinder.
Viele von ihnen wurden bereits mehrere Male in ihrem Leben vertrieben.
Luis Romero ist froh, überhaupt irgendwo bleiben zu können. Der 34jährige Afrokolumbianer sitzt auf einem Plastikstuhl am Rande des Dorfes. Sein Gesicht spiegelt Entschlossenheit und einen unbedingten Überlebenswillen, wenn er von seinen Vertreibungen berichtet. 1996, da war Romero elf Jahre alt, mussten er und seine Familie das erste Mal fliehen. »Wir mussten alles zurücklassen«, erzählt er. Mit vier Geschwistern und seinen Eltern schlug er sich durch den Regenwald bis zu einem kleinen Dorf durch.
Doch ein Jahr später wurden sie erneut vertrieben. Schuld war die »Operation Genesis«. Die Armee ermordete, unterstützt von Paramilitärs, in ihrem rücksichtslosen Kampf gegen die Guerilla mehr als 80 Menschen in dem dünn besiedelten und überwiegend von Afrokolumbianerinnen bewohnten Departamento Chocó. Über 4000 Menschen wurden vertrieben. »Das Militär kam, ist mit Flugzeugen über die Flüsse geflogen und hat Bomben abgeworfen«, erinnert sich Romero. Ganze
Dorfgemeinschaften seien damals gemeinsam geflohen, auf Booten, zu Fuß, ganz egal, Hauptsache schnell weg. »Wir sind nur gerannt.«Der kleine Romero floh, nur mit Badehose und Badelatschen bekleidet, tagelang durch den Regenwald. »Noch heute erinnere ich mich daran, als wäre es gestern gewesen. Ich erinnere mich an jeden einzelnen Stein, der sich durch meine dünnen Sohlen gebohrt hat«, sagt er und ein trauriges Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. Irgendwann erreichten sie die Kirche von Riosucio, in der sie Zuflucht fanden. Andere hatten weniger Glück. »Einige Dorfbewoh-
ner wollten nicht fliehen und haben gesagt: ›Ich gehe hier nicht weg, ich lasse mich nicht vertreiben.‹ Sie wurden alle umgebracht.«
Gabriela Cortez war sieben Jahre alt, als sie das erste Mal aus ihrem Dorf vertrieben wurde. Ihre braunen Haare sind zu einem strengen Zopf geflochten, ihre Augen starr auf ihre rot lackierten Fingernägel gerichtet.
Auch sie erinnert sich genau: »Ich musste meine kleinen Geschwister tragen. Meine Tante war hochschwanger. Tagelang sind wir durch Karawane für das Leben Der Fluss Truando ist zuweilen letzter zuverlässiger Verbündeter der Bewohnerinnen im Chocó. Den Dschungel geirrt.« Wer zu
schwach war, wurde zurückgelassen.
So auch ihre Tante, die noch auf derFlucht ihr Kind entband. Ein paar Tage später erreichten jedoch auch sieund ihr Neugeborenes das Flüchtlingslager am Rande der nächstgelegenen Stadt. Ein Jahr lang wartetensie dort unter elenden Bedingungendarauf, endlich wieder in ihr Dorf zurückkehren zu können.
Doch als es so weit war, war nichts mehr wie zuvor. Die Dörfer von Luis Romero und Gabriela Cortez gab es nicht mehr: Fast alle Häuser waren zerstört. Paramilitärs hatten mittlerweile die Kontrolle und stigmatisierten und bedrohten die Bewohnerinnen als Mitglieder der Guerilla. Tatsächlich galt der Chocó als klassisches Rückzugsgebiet der linken Guerillabewegung FARC, die sich mit den kolumbianischen Streitkräften, den rechten paramilitärischen Gruppen und den Drogenkartellen bewaffnete Auseinandersetzungen lieferte, denen häufig auch Zivilistinnen zum
Opfer fielen. Im Gegensatz zu den Paramilitärs galten sie bei der Landbevölkerung jedoch als das kleinere Übel. Kein Wunder: Laut Kolumbiens Nationalem Zentrum für das historische Gedächtnis gehen 80 Prozent aller Straftaten im bewaffneten Konflikt auf das Konto der Paramilitärs.
»Ich will die FARC nicht verteidigen, aber als wir erfahren haben, dass sie die Region wieder unter ihrer Kontrolle haben, haben wir uns gefreut. Weil wir wussten, dass wir wieder in unsere Dörfer zurückkehren können«, sagt Romero rückblickend.
Die Freude währte nicht lange. Die folgenden Jahre waren geprägt von weiteren Vertreibungen, Kämpfen zwischen FARC und Paramilitärs und Massakern an der Bevölkerung, erzählt Romero. »Meistens ging es darum, dass die Paras versucht haben, der FARC die Kontrolle über die Transportrouten am Pazifik abzunehmen. Dabei ging es immer um Drogenhandel«, weiß der 34ährige.
Wer konnte, floh nach Riosucio. Wer es sich leisten konnte, noch weiter weg, nach Medellín oder Bogotá.
Im Dezember 2016 schließlich kommt es zum Friedensvertrag der Regierung mit der FARC. Doch noch immer kommt der Frieden nicht mi Chocó. Nirgendwo im Land gibt es mehr Vertreibungen als hier: Seit Januar 2018 zählt die kolumbianische Ombudsstelle für Menschenrechte 57 Massenvertreibungen mit 21 000 betroffenen Personen allein in der Pazifikregion. Aktuell sind dort 17 neue kriminelle Gruppen aktiv. Meist geht es um Drogen- oder Menschenhandel in die USA über die nahe gelegene Grenze zu Panama oder um die illegale Inbesitznahme von Land für multinationale Unternehmen, die hier Bodenschätze wie Erdöl oder Küche für alle Gold fördern. Die entstehenden Umweltzerstörungen rauben der Landbevölkerung ihre ohnehin spärlichen
Lebensgrundlagen.
Das Land ist, gerade für die indigenen Gemeinden, von besonderer kultureller Bedeutung. Den Afrokolumbianerinnen und den Indigenen in ihren Autonomiegebieten stehen laut Verfassung weitgehende Rechte über ihr Territorium zu. Doch viele Unternehmen halten sich nicht daran. Auch auf ihrem Land bauten Firmen Holz ab, obwohl die Gemeinde das nie genehmigt habe, klagt der
Presidente von Clavellino. Tun können sie dagegen wenig. Im Gegensatz zu den Indigenen, die über ein eigenes Justizsystem verfügen, haben sie keine eigenen Wachen, und der Staat ist nicht präsent. »Hier hört man auf den, der die Waffe in der Hand hat«, sagt Romero.
Sieben Mal wurden Romero und seine Familie insgesamt vertrieben, das bisher letzte Mal vor zwei Jahren. In diesem Fall war es die ELN, eine linke Guerillabewegung, die in dem Gebiet bis heute aktiv ist, mit der sich die Paramilitärs bewaffnete Auseinandersetzungen lieferten. Dabei hatten
die Bewohnerinnen gehofft, nach dem Friedensvertrag endlich ein normales Leben führen zu können. »Das war besonders schlimm, weil die Leute gerade angefangen hatten, Kakao anzubauen – mit der Hoffnung, damit endlich einen gesicherten Lebensunterhalt zu haben«, sagt Romero.
Die Folgen des andauernden Konflikts sind fatal: Viele trauen sich aus Angst vor weiteren Vertreibungen nicht, in das ihnen geraubte Land zurückzukehren. Als ungelernte Landarbeiterinnen verdingen sie sich in den Städten als Tagelöhner und nehmen jede noch so schlecht bezahlte Arbeit an. Die, die die Rückkehr wagen, finden aufgrund der vielen Landminen nie richtig in ihr bäuerliches Leben zurück. Psychische Traumata und chronische Mangelernäh
Fotos: Caravana por la vida rung sind an der Tagesordnung.
Die vom Gesetz vorgesehenen Entschädigungen erhält kaum jemand.
Die Menschen in Clavellino und den umgehenden Gemeinden sind völlig abhängig von Hilfsorganisationen und der Kirche, die ihnen ab und zu Reis, Bohnen und etwas Öl bringen.
Einen Arzt gibt es in Clavellino ebenso wenig wie eine Schule. Die Wenigsten leben hier daher dauerhaft. So wie Luis Romero, der eigentlich mit seiner Familie in Riosucio lebt und nur zu den Ernten in das Dorf zurückkehrt. Jetzt sind gerade die Kochbananen reif. Seine Frau und sein Kind würden gerne nach Clavellino kommen, aber so lange es hier keine Schule gibt, ist das nicht möglich. Laut Regierung gibt es in Clavellino zu wenige Kinder für eine Schule, und ohne eine Schule können die Familien nicht zurückkehren. Ein Teufelskreis.
Gabriela Cortez zeigt auf die vielen Boote am Ufer. »Es ist ein ständiges Kommen und Gehen«, sagt sie. »Unsere Familien leben auseinandergerissen.« Auch sie hat ein Kind in Riosucio, das abwechselnd von ihr und ihrer Mutter betreut wird. Durch die vielen Vertreibungen hat Cortez im
Gegensatz zu ihrer Tochter nie die Schule besucht. Doch das holt die 28Jährige jetzt nach, sie steht kurz vor ihrem Grundschulabschluss. Eines Tages will sie Lehrerin werden, erzählt sie, am liebsten hier in Clavellino. »Was will ich in der Stadt? Ich kenne nur das Landleben. Ich bin hier geboren und würde es gegen nichts tauschen. Nur hier fühle ich mich frei.«Freiheit ist im Chocó allerdings alles andere als selbstverständlich. »Die größte Sorge ist, dass die Paramilitärs die Dörfer infiltrieren«, sagt Romero. Offen zu sprechen, trauen sich daher nur die Wenigsten. »Wer zu viel
redet, liegt am nächsten Tag tot mi Fluss.« In den indigenen Gemeinden will niemand über die Vertreibungen und die bewaffneten Konflikte in der Gegend reden, zu groß ist die Angst.
Nicht ohne Grund: Seit dem offiziellen »Frieden« wurden im Chocó Dutzende politische Aktivist*innen ermordet. Wie lebt man mit dieser ständigen Bedrohung? Romero zuckt mit
den Schultern und schaut betreten auf seine Gummistiefel. »Man lernt, sich den Bedingungen anzupassen. Wenn man die Träume, die man hat, nicht verwirklichen kann, muss man eben
neue entwickeln.«Träume hat der junge Afrokolumbianer jede Menge. Am liebsten will er die ganze Welt bereisen, Mexiko etwa oder Malaysia. Und natürlich Deutschland, sagt er und zum ersten Mal an diesem Tag leuchten seine Augen, während er lacht.
*Name von der Redaktion aus Sicherheit für die Betroffenen geändert.
Die diesjährige Caravana Humanitaria por la Vida (Humanitäre Karawane für das Leben) in das kolumbianische Departamento Chocó stand zwischenzeitlich immer wieder auf der Kippe – zu waghalsig, zu gefährlich schien den Organisatorinnen das Vorhaben. Als im März ein politischer
Aktivist, der die Karawane vor Ort mitorganisiert hat, ermordet wurde, schien das Aus besiegelt. Die Aktivistinnen des Red de Hermandad y Solidaridad con Colombia, das die Karawane gemeinsam mit anderen nationalen und internationalen Netzwerken organisiert, beschlossen jedoch, trotzdem – oder vielmehr erst recht – weiterzumachen. In der Hoffnung, die Öffentlichkeit auf die
Zustände aufmerksam zu machen und dem andauernden Krieg zwischen Militärs, Paramilitärs und
Guerilla ein Ende zu bereiten, der eine humanitäre Krise im Chocó ausgelöst hat. Die Regierung zu
zwingen, den Menschen endlich zu helfen – das ist das Ziel.
Und so war die diesjährige Karawane sogar die bislang größte: 120 Menschen, davon 38 Inter-
nationalisten aus zwölf verschiedenen Ländern nahmen teil. Immerhin organisiert das Red de
Hermandad y Solidaridad con Colombia seit 2012 jedes Jahr eine humanitäre Karawane in unterschiedliche Regionen Kolumbiens, um auf die Probleme der Bevölkerung aufmerksam zu ma-
chen und sich mit ihr zu solidarisieren. Die Größe der Unternehmung war diesmal zugleich ihr
Schutz. In drei verschiedenen Gruppen à 40 Personen teilte sich der Konvoi schließlich auf: Eine
Gruppe zog in die Humanitären Zonen, eine Art Friedensgemeinden, in denen keinerlei bewaffnete Akteure geduldet werden.
Die beiden anderen Gruppen befuhren sich mit mehreren Booten die Flüsse Truando und Salaqui,
um die indigenen und afrokolum bianischen Gemeinden zu besuchen, die von dem Konflikt besonders betroffen sind. Journalistinnen und Fotografinnen, Künstlerinnen, Ärzte und Pflegerinnen sowie Menschenrechtlerinnen arbeiteten in verschiedenen Gruppen über mehrere Tage mit den Betroffenen.
Das Ergebnis nach zehn Tagen ist so vielfältig wie die Menschen selbst: Es wurden unzählige Geschichten erzählt, Lieder gesungen und Bilder gemalt. Krankheiten wurden geheilt und Ratschläge erteilt, manch einer wohnte sogar erstmals einer Geburt bei.
Das Wichtigste jedoch, darin waren sich alle einig, waren die Verbindungen, die auf diese Weise
geschaffen wurden. Und die so entstandene Stärkung des Widerstands gegen die allgegenwärtige
Gewalt und Ausbeutung. Mfr