Lateinamerika Nachrichten e.V. Nummer 543/544 – September/Oktober 2019
Im Nordwesten Kolumbiens kämpfen bewaffnete Akteure um die Kontrolle von Land und Ressourcen. Immer wieder geraten die vielen indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden dabei ins Kreuzfeuer. Um sich und ihren Lebensraum zu schützen, leisten einige Gemeinden aktiven, aber unbewaffneten Widerstand.
Die autonome Dorfgemeinde von Marcial / Foto: Javier Serna
Kinder sitzen aneinander gekauert in einem Loch in der tiefroten Erde, vielleicht ein, zwei Meter tief. Sie ducken sich verängstigt, ziehen die Köpfe ein, ein paar etwas Ältere drücken die Kleinsten eng an sich. Diese Bilder aus dem Chocó, dem nordwestlichen Department Kolumbiens zwischen Pazifik und Karibik, gingen im August durch die Medien. Aufgenommen mit Handys von Familienangehörigen. Grund für die Situation waren Hubschrauberflüge vom Militär über der Gemeinde. Solche Drohgebärden verängstigen die Menschen, wurden ihre Gemeinden in der Vergangenheit doch immer wieder von Militär und Paramilitär bombardiert.
Hier im Norden Kolumbiens, ein paar Tage mit dem Boot von Panama entfernt, befinden sich zahlreiche Autonomiegebiete von Indigenen und Afrokolumbianerinnen. Sie umfassen insgesamt über 93 Prozent der Fläche des Chocó. Die Autonomie dieser Gebiete wurde in der Verfassung von 1991 legal verankert. Zur Wahrung der ethnisch-territorialen Rechte müssen die Bewohnerinnen im Falle einer Intervention auf ihrem Gebiet vorher befragt werden, denn die Landtitel sind kollektiv, können nicht an externe Akteure veräußert, sondern maximal verpachtet werden. In den Gebieten der Indigenen ist zudem die eigene Justiz per Gesetz anerkannt. Im Chocó existieren 120 solcher indigener Autonomieregionen, zumeist bewohnt von Embera und Wounaan.
“Es ist eine Gemeinde von Vertriebenen, die […] seit Jahrzehnten des Bürgerkriegs auf der Flucht sind”
Eine davon ist Jagual-Río Chintadó, in der sich auch das Dorf Marcial befindet. Es liegt am Fluss Chintadó, einem Nebenarm des Atrato, und wurde 1984 von rund 1000 Indigenen gegründet. „Die Geschichte der Siedlung Marcial reicht aber mindestens 500 Jahre zurück“, erzählt Pedrito García von den Wounaan: „Während all dieser Zeit waren wir auf der Suche nach einem geeigneten Territorium, wo der Boden eine gute Ernte garantiert, wo genügend Fische und andere Tiere leben.“ Bevor die Familien in Marcial siedelten, waren sie als Halbnomadinnen in großen Familienzusammenhängen organisiert. Erst mit den Jahren wurden immer mehr Familien in Marcial sesshaft und bauten Häuser. „Es ist eine Gemeinde von Vertriebenen, die wegen der verschiedenen bewaffneten Auseinandersetzungen seit Jahrzehnten des Bürgerkriegs auf der Flucht sind – teilweise waren sie sogar bis nach Panama geflohen“, erklärt García. Die Region ist von dichtem Urwald bewachsen, es gibt keine Straßen oder befestigten Wege, nur über die Flusswege gibt es Zugänge. Die Bezirkshauptstadt ist acht Stunden mit dem Boot entfernt, sofern der Fluss nicht vom vielen Schwemmholz verstopft ist.
Doch selbst der dichte Urwald kann bewaffnete Akteure nicht abschrecken. Heute geht es ihnen vor allem um die Kontrolle der Transportwege für illegale Märkte, für Drogen, Waffen, illegalen Rohstoffhandel mit Ressourcen wie Kupfer, Gold und Coltan. Aber auch illegal geschlagene Edelhölzer werden über das weit verzweigte Flusssystem transportiert – 4.000 Hektar der Regenwälder im Chocó werden jährlich abgeholzt. Nicht zuletzt boomt das Geschäft mit Ölpalmen auf den gerodeten Flächen. Mit den Monokulturen verlieren die Menschen die Kontrolle über ihre kollektiven Gebiete und ihre Autonomierechte. Die Biodiversität und der biologische Genpool sind von Interesse für die Pharmaindustrie und der Atrato ist von großer Bedeutung als Süßwasserreservoir. Am dramatischsten sind jedoch die Geschäfte mit Migration und Menschenhandel. Der Atrato ist das Nadelöhr für die globale Migration über Mittel- nach Nordamerika. Die Migrantinnen kommen nicht nur aus der Karibik, sondern auch aus Westafrika und Südasien.
Und der kolumbianische Staat? Der vernachlässigt die Bedürfnisse der Menschen vor Ort und verdient kräftig mit an den illegalen Geschäften. Er tritt nicht für die Rechte der Anwohner*innen ein, sondern für die Militarisierung mit Blick auf zu fördernde Ressourcen. So kam es auch unter Mitwirken des Staates zur ersten massiven Vertreibung in den Jahren 1996 und 1998. Damals wurden erste Megaprojekte initiiert und zum Schutz der Interessen der internationalen Firmen die paramilitärischen Gruppen bewusst aufgebaut.
Foto: Andreas Hetzer
Die Folgen sind verheerend. Im Chocó leben 500.000 Menschen – laut Statistikamt sind fast 80 Prozent der lokalen Bevölkerung arm. Zum Vergleich, im nationalen Landesdurchschnitt sind es 28 Prozent. Rund 27 Prozent der Menschen im Chocó leiden unter extremer Armut – in ganz Kolumbien betrifft das sieben Prozent, zumindest nach offiziellen Angaben. In Marcial sind allein in den letzten beiden Monaten acht Kleinkinder an Unterernährung gestorben. Da die bewaffneten Akteure die Zugänge über die Flüsse kontrollieren, kommen Nahrungsmittel und Medikamente nicht an – oder sie werden mit Schutzgeld belegt und werden damit unerschwinglich für die Bevölkerung. Die Folge sei chronische Mangelernährung, weil die Menschen nie ins bäuerliche Leben zurückfinden, so die Ombudsstelle für Menschenrechte in Kolumbien.
Der Krieg dauert bis heute an und hat in den letzten Jahren sogar an Intensität zugenommen. Seit dem Friedensabkommen von 2016 ist nirgendwo in Kolumbien die Vertreibung so massiv, rund 70 Prozent aller aktuellen Fälle finden am Pazifik statt. Die Vertriebenen suchen oft monate- oder jahrelang vergeblich Hilfe in den urbanen Zentren. Die Menschen fliehen, um ihre Kinder vor Zwangsrekrutierungen zu schützen. Zwischen Januar 2018 und Juni 2019 wurden 57 Massenvertreibungen gemeldet – 21.000 Personen sind auf der Flucht. „Wir bleiben in Marcial. Was haben wir sonst für eine Wahl. In anderen Dörfern müssen sie bei jedem lauten Knall fliehen. Dann leben sie im Elend in Riosucio oder anderen urbanen Zentren“, beschreibt García.
21.000 Menschen sind auf der Flucht
Von den Vertreibungen im Jahr 2018 waren laut der UNO vor allem Indigene und Afrokolumbianerinnen betroffen. Im Bezirk von Riosucio, zu dem auch Marcial gehört, wurden laut staatlichen Quellen zwischen 1985 und 2019 mindestens 382 Menschen ermordet, und 190 Menschen entführt, die seitdem verschwunden sind. Seit 2017 wurden 17 Aktivistinnen im Chocó ermordet, davon 9 am Flusslauf des Atrato. Dabei sind die Menschen nicht mitgezählt, die den Landminen zum Opfer fallen. „Das schlimmste, was der Konflikt uns hinterlässt, sind die Minen,“ erzählt García. In der gesamten Region seien sie verlegt. „Eigentlich überall dort, wo es Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen bewaffneten Gruppen gibt, um ihre Einflussgebiete vor ihren Gegnern zu verteidigen“, ergänzt er. Die Embera und Wounaan rufen das Militär zu Hilfe, wenn sie Landminen auf ihrem Gebiet vermuten. Denn nur das Militär hat die notwendige Ausrüstung und Personen mit Spezialausbildung zu deren Räumung und Entschärfung. In allen Autonomiegebieten werden immer wieder Minen gefunden, manchmal tritt nachts ein Tier darauf und explodiert. Gleich hinter dem Sportplatz von Marcial steht ein Schild, das vor dem Betreten des Waldstücks warnt. Eigentlich wären es zur Nachbargemeinde Jagual nur ein paar Minuten zu Fuß. Der einzig sichere Zugang bleibt nur über den Fluss.
Foto: Andreas Hetzer
Und wer legt die Minen? Vor allem Paramilitärs, aber auch Guerilla und sogar das Militär selbst. Es ist schwer nachzuweisen, da die Minen immer selbstgebastelte Sprengkörper sind, die nicht eindeutig einem Akteur zugeordnet werden können. Seit 2015, also inmitten der Verhandlungen der FARC mit der Regierung, sind nun wieder paramilitärische Verbände in der Region verankert – sie lassen Menschen verschwinden und säen Terror unter der Bevölkerung. Die Paramilitärs rekrutieren auch zwangsweise Minderjährige. Ebenfalls wächst der Einfluss der ELN-Guerilla in der Region am Atrato. Seit der Präsident Iván Duque die Verhandlungen mit ihnen abgebrochen hat, ziehen sie sich in ihre traditionellen Gebiete zurück. Unter anderem in den Chocó. Sie sollen viermal mehr Mitglieder haben als noch vor zwei Jahren.
Aber es gibt Widerstand aus den indigenen Gebieten – vollkommen unbewaffnet. „Alles was wir einsetzen, ist unsere Gemeinschaft und die Solidarität untereinander“, beschreibt García. Ein Teil der Gemeinde in Marcial ist damit beauftragt ihr Gebiet zu bewachen. Sie nennen sich selbst Verteidigerinnen des Territoriums und lassen sich an ihrem symbolischen Kommandostab, dem bastón de mando, erkennen, den sie immer mit sich führen. Die Verteidigerinnen werden auf den Treffen der ganzen Dorfgemeinschaft bestimmt. Simón ist einer von ihnen. Mit seinen 31 Jahren gilt der in Marcial geborene junge Wounaan schon als einer der Älteren. Er ist damit beauftragt, die Verteidiger*innen zu koordinieren und ihre Aufgaben einzuteilen. Die Gemeinschaft habe ihn mit dieser wichtigen Aufgabe betraut, weil sie seine Disziplin und seinen Gemeinschaftssinn schätze, teilt er schüchtern und mit leiser Stimme mit. Seit knapp drei Jahren ist er dabei – von Beginn an. Die Idee kam im Austausch mit anderen Indigenen bei einem Treffen in der Hauptstadt Bogotá. „Andere indigene Gemeinschaften haben schon seit vielen Jahren eigene Verteidigungseinheiten, die sie woanders guardia indígena nennen. Wir befinden uns noch im Aufbau und benötigen die Unterstützung von anderen indigenen Völkern, die uns in Theorie und Praxis der Selbstverteidigung schulen können.“ Bisher haben sie sich alles selbst beigebracht und greifen auf den Erfahrungsschatz der Älteren in der Gemeinde zurück.
Unterricht in Marcial “Eine Gemeinde von Vertriebenen”
Unterricht in Marcial – “Eine Gemeinde von Vertriebenen” / Foto: Javier Serna
Schon den Kindern ab zwölf Jahren wird in der Schule grundlegendes Wissen zur Verteidigung des Territoriums beigebracht, aber Aufgaben dürfen sie erst ab 18 Jahren übernehmen. In Marcial gibt es 54 Verteidiger*innen, davon 21 Frauen. Die Frauen haben dieselben Aufgaben wie die Männer. Der einzige Unterschied ist, dass sie tagsüber über das Gebiet wachen und die Männer nachts. Der Mut und die Überzeugung, ihre Gemeinschaft und ihr Territorium zu verteidigen, verleiht ihnen die notwendige Kraft, um sich notfalls gegen bewaffnete Akteure zu stellen. „Wenn es gravierende Probleme in einer der Nachbargemeinden gibt, schicken wir eine Kommission zur Unterstützung oder Verstärkung, und umgekehrt. Wir arbeiten immer gemeinschaftlich“, erläutert Simón selbstverständlich. Nur in Ausnahmefällen, wenn die Bedrohung sehr groß sei, werde die gesamte Gemeinde mobilisiert.
In Marcial gibt es 54 Verteidiger*innen, 21 davon sind Frauen.
Die Verteidigung des Rechts zu bleiben geht weit über Marcial hinaus. “Wir verstehen uns als einen kleinen Teil der Bewegung für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben“, sagt García. Gerade deswegen ist die Verteidigung des Territoriums existenziell. Denn das Territorium bedeutet mehr als nur der Boden. Es gilt den Embera und Wounaan als vitaler Lebensraum, der unmittelbar mit der eigenen Kosmovision und Identität zusammenhängt. Der Erhalt der eigenen Kultur ist deswegen immer auch ein kollektiver Akt des Widerstands gegen die Kolonisierung und Unterdrückung. „In vielen Bereichen sind wir bereits gescheitert, denn die sogenannte Zivilisation, die Konquistadoren und ihre Religion haben viel von unserer Tradition und sogar unsere Sprache zerstört“, sagt García. Im Jahr 1995 hat die Gemeinschaft in Marcial deshalb beschlossen, nach ihren eigenen Ursprüngen und ihrer Kosmovision zu forschen und dieses Wissen zu verschriftlichen. „Denn es gibt kaum schriftliche Überlieferungen. Wir haben quasi von null angefangen“, so García weiter.
Verteidigerin des Territoriums – Frauen haben die gleichen Schutzaufgaben wie die Männer / Foto: Nicolás Achury González
Das Gleiche gilt für die Schule im Dorf. Anfangs gab es ein Gebäude aus traditionellen Naturmaterialien, um den Kindern traditionelles Wissen beizubringen. Allerdings hatten die Kinder nur bis zur fünften Klasse Unterricht, da es keine ausgebildeten Lehrer gab. Später dann setzte die Gemeinde durch, dass der Staat die Lehrerinnen bezahlte, jedoch kamen diese immer von außerhalb und unterrichteten nur auf Spanisch. „Bis 1995 gab es keinen Lehrer mit linguistischen Kenntnissen unserer Muttersprache, aber nun gibt es welche aus unseren eigenen Reihen. Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht. Heute sind wir über 300 Wounaan-Lehrer in Kolumbien“, berichtet García stolz, der selbst Lehramt studiert hat und an der eigenen Schule arbeitet. Nun wird besonders in den ersten Jahren Wert darauf gelegt, einen Teil der Lehre in Wounaan und Embera abzuhalten. Zudem wird der Lehrplan selbst entwik-kelt und eigenes Lehrmaterial zu indigener Kultur und Geschichte erstellt. Doch nicht nur die Lehrerinnen und Schüler*innen sind daran beteiligt. „Die Bildung ist ein Gemeinschaftsprojekt. Wir beziehen die gesamte Gemeinde mit ein, denn das Wissen und die Wissenschaft besitzen die Weisen und Ältesten“, gibt sich García sicher. Nicht nur die Bildung, sondern eigentlich alles wird in Marcial gemeinschaftlich organisiert. Jeden Tag kommt die große Versammlung zusammen, an der alle teilnehmen, auch die Kinder über 12 Jahre. García lächelt und sagt: „Deshalb bezeichnen wir die Versammlung als unsere Universität, da wir jeden Tag etwas über die indigenen Rechte und die politische Organisierung des Widerstands lernen.“
// Anna-Lena Dießelmann und Andreas Hetzer * Namen von der Redaktion geändert
in
Anmeldung für den Newsletter